Dresden – Gift am Altmarkt


Kriminalhauptkommissar Alexander List hört es genau: In seiner Küche ist jemand. Geschirr klappert und Kaffeeduft weht zu ihm ins Schlafzimmer herauf. Er liegt in seinem Bett, hellwach, nicht fähig nur ein Augenlid zu heben. Eine seiner Stärken ist es analytisch zu bleiben, wenn andere in Panik verfallen.
Was tue ich zuerst, fragt er sich. Er versucht irgendetwas. Nichts funktioniert. Er kann keinen Finger rühren und nicht das Tempo seiner Atmung beeinflussen. Er weiß, das ist kein Traum. Er überlegt, was geschehen ist. Hatte ich einen Unfall? Nein. Nicht, dass ich wüsste. Woran kann ich mich erinnern?
Mühsam kommen die Geschehnisse wieder hervor. Er war gestern zum Sonnenwendfeuer im Bürgertreff von Hellerau, nahe Dresden. Fast alle seiner Nachbarn waren da. Er hat sich unterhalten. Er hat Cola getrunken, weil er nie Alkohol trinkt. Er hat eine Bratwurst gegessen. Er war allein dort. Seine Frau Caro und seine Tochter Laura sind beide verreist. Er müsste jetzt allein sein.
Wer ist in meiner Küche?
Caro? Wie gern würde ich sie rufen, doch ich kann nicht. Wenn mir jetzt eine Fliege in den halb geöffneten Mund kriechen würde, könnte ich sie nicht abwehren.


  • Caro! schreien seine Gedanken. Seine Frau ist weit weg. Sie ist auf einer Alm, besucht ein Seminar. Kinesiologie. Sie wird noch einige Tage dort sein. Vielleicht ist sie früher zurückgekommen, versuchen sich Alexanders Gedanken an einen Strohhalm zu klammern. Es ist nicht Caro. Sie würde zu dieser Zeit keinen Kaffee kochen, morgens trinkt sie Tee.
    Auch Laura, seine Tochter, würde keinen Kaffee kochen. Sie trinkt Kakao. In ihrem Alter ist der Kaffeegeschmack scheußlich. Sie ist auf einer Sprachreise mit der Klasse. Paris. Auch sie wird erst am nächsten Wochenende nach Hause kommen.
    Es hämmert in seinem Kopf: Welcher Tag ist heute? Wie lange liege ich schon hier? Ich muss jetzt hochkommen! Ich muss!

    Meistens ist Kriminalkommissarin Julia Kranz schon lange vor Arbeitsbeginn an ihrem Arbeitsplatz. Wenn sie das Dienstzimmer aufschließt, hat sie einen kurzen, ehrgeizigen Sprint hinter sich. Zwei Kilometer sportliche Höchstleistung. Sie wohnt in der Dresdner Neustadt. Auf dem Arbeitsweg zu ihrer Dienststelle ins Polizeipräsidium muss sie auf einer Brücke die Elbe überqueren, vorbei an einem Gotteshaus und dann sieht sie schon ihr Ziel. Jeden Morgen konzentriert sie sich an ihrer Haustür, holt tief Luft – und dann gilt es: Sie muss sich selbst übertreffen. In jedem Fall startet sie die Stoppuhr ihres Handys. Sie legt die Regeln fest. Jeden Tag ist es etwas anderes. Manchmal zählt sie die Atemzüge, die sie braucht für ihren Weg. Manchmal spannt sie die Bauchmuskeln an, zehn Schritte fest, einen Schritt loslassen. Manchmal versucht sie die Schrittlänge zu vergrößern, um mit möglichst wenigen Schritten über die Strecke zu kommen.
    Heute nicht.
    Als sie auf der Schwelle ihrer Haustür steht, fällt ihr ein Zettel auf. Jemand hat angezeigt, dass in Kürze junge Katzen abzugeben sind. Sie betrachtet das Foto. Ein Lächeln zieht über ihr ebenmäßiges Gesicht und der Gedanke an junge Kätzchen lässt sie für einen Augenblick den Ehrgeiz vergessen. So schlendert sie heute ohne Eile über die Elbbrücke. Sie hört eine Amsel singen und sie sieht einen Mann auf seinem Fahrrad, der versucht eine Tortenschachtel zu balancieren. Die Morgensonne bescheint sie von links und so nimmt sie zum ersten Mal auf diesem Weg ihren Schatten wahr. Eigentlich schade, denkt sie, dass ich an einem so schönen Tag nicht in Sandalen und wehendem Sommerrock zur Arbeit gehen kann. Sicherheit geht vor, ermahnt sie ihren Gedanken. Schuhe, in denen man einen Sprint hinlegen kann, sind Vorschrift. Dazu passt kein flatternder Rock.

    Wie jeden Morgen startet sie ihren Computer und während der zum Leben erwacht, holt sie sich einen Kaffee vom Automaten. Dabei sieht sie unausweichlich das Bild ihres Vaters, das am Kaffeeautomaten im goldenen Rahmen hängt. Der Trauerflor war irgendwann abgefallen, doch ihr Schmerz der Trauer nicht. Manche Kollegen sehen ihren stetigen und schnellen Aufstieg als Wiedergutmachung an ihrem Vater an. Er ist im Dienst gestorben. Ausgerechnet Alex ist jetzt ihr nächster Vorgesetzter und unmittelbarer Kollege. Alex, der an jenem Tag mit ihrem Vater unterwegs war, um Personenüberprüfungen durchzuführen. Die beiden Männer waren auch privat befreundet. Auf einigen Familienfotos der Familie Kranz sind auch Alex und seine Frau Caro zu sehen.
    Alles war entspannt, damals, als das Unheil geschah. Nichts deutete auf eine Gefahr hin. Die beiden standen vor der Fahrertür eines Autos und wollten die Papiere des Fahrers sehen. Der nickte, lächelte und sagte, dass die Papiere im Handschuhfach auf der Beifahrerseite seien. Er öffnete dieses Fach und in derselben Sekunde knallte es. Julias Vater, Martin Kranz fühlte einen Stich im Hals. Alex hätte ihn sichern können. Er hat die Gefahr nicht erkannt. Nach dem Schuss hat Alex verzweifelt versucht, die Blutung mit seinen eigenen Händen zu stoppen. Vergeblich.
    Es gab ein feierliches Begräbnis und eine Gerichtsverhandlung. Der Täter ist längst wieder auf freiem Fuß und die verbüßte Strafe darf ihm nicht zum Nachteil ausgelegt werden. Doch Julia, ihre Mutter und ihre Schwester tragen den Schock jenes Tages noch immer in sich. Ihre Mutter Ingrid war viele Jahre depressiv. Sie sah die Welt nur noch durch die Brille ihres verstorbenen Mannes. Bei jeder Entscheidung war ihr erster Gedanke: Was würde Martin tun, was würde er dazu sagen? Seit einem Jahr versucht sie, sich aus diesem Gedankenkarussell zu befreien. Julias Schwester Tina benimmt sich wie ein Teenager. Sie findet den Weg in ihr eigenes Leben nicht. Sie will alles ausprobieren, sich nicht festlegen. Stellvertretend versucht sie, alle Familienmitglieder zu kontrollieren. Das war bis zu jenem Tag die Eigenart des Familienvaters. Er war der große Beschützer, der Planer und Lenker der Familie. Julia wollte damals Lehrerin werden, studierte auf Lehramt. Nach der Gerichtsverhandlung konnte sie das nicht mehr. Die Mutter des Mörders trat vor und zeigte dem Gericht Kinderbilder eines braven Jungen. Sie bat um Nachsicht. Sie erklärte, dass dieser gute Junge mit den großen Kulleraugen nur im Schock gehandelt hätte. Er hat es nicht so gemeint. Der Verteidiger projizierte die Bilder mit einem Beamer auf eine Leinwand. Der Mörder ihres Vaters war ein hübsches Kind. Diese Bilder haben sich in Julias Seele eingebrannt. Sie sah von nun an in jedem kleinen Schüler einen zukünftigen Verbrecher. Einen, der grinsend die Werte der Gesellschaft hintergeht. Sie war wie erstarrt. Sie ist es heute noch. Sie schaffte es zu funktionieren, doch sie schafft es kaum zu vertrauen. Außer ihrer Mutter und Alex, vielleicht.

    Alex hat sich bis auf den heutigen Tag nicht verziehen, dass er die Bedrohung in jenem Augenblick nicht erkannt hat. Es gab eine Untersuchung und man hat ihm nichts vorgeworfen. Im Herzen gibt er sich die Schuld. Als vor einigen Monaten Julia in sein Zimmer versetzt wurde und sie ihm unterstellt worden war, lastete das tonnenschwer auf seiner Seele. Julia war die Beste. Sie kam aus dem Dezernat Versicherungsbetrug und sie war brillant. Doch mit ihr kam auch Alexanders Schmerz um den toten Freund und Kollegen zurück. Julia hat äußerlich große Ähnlichkeit mit ihrem Vater.

    Wie jeden Morgen schaut sich Julia die Meldungen der letzten Nacht an. Einbruch in eine Gaststätte; Randale bei einer Sportveranstaltung; Schmierereien an einem neu gebauten Haus; ein vermisster Jugendlicher - nicht zum ersten Mal; Autodiebstähle; Einbruch in ein Modegeschäft. Das Übliche. Nichts davon wird sie bearbeiten. Sie ist für die Unversehrtheit von Leib und Leben verantwortlich, wie es in der Amtssprache heißt.
    Sie öffnet die Datei der Fahndungen. Es ist eine lange Liste. Es sind fast nur Männer, die sich staatlicher Kontrolle entzogen haben. Die Anklagen lauten Steuerhinterziehung, Betrug, Raub, Drogenhandel… Irgendwie geht es immer nur ums Geld, denkt sie. Viele von denen sind wahrscheinlich schon längst nicht mehr in Deutschland. Ein paar Freigänger haben den Weg zurück ins Gefängnis nicht gefunden. Die meisten von denen geben ihre Flucht irgendwann von selbst auf. Sie müssen von etwas leben und das erfordert Registrierung, das Vorzeigen ihres Ausweises – und den haben Insassen der Justizvollzugseinrichtungen nicht.

    Auf Alexanders Schreibtisch klingelt das Telefon. Julia steht auf, geht hinüber und nimmt ab. Noch ehe sie sich meldet, schreit jemand am anderen Ende:
    „Ihr liegt wohl noch in den Federn? Schlamperei! Seit einer Ewigkeit versuche ich dich zu erreichen, Alex! Seit wann stellst du das Handy aus, wenn du Bereitschaft hast?“
    Julia hat die Stimme und auch den Grund der Tirade erkannt. Es ist einer der Kollegen, der heute in der Einsatzzentrale sitzt. Er wird gleich abgelöst. Er muss müde sein.
    „Ich bin es, Julia. Alex ist noch nicht da. Was liegt an?“
    „Wieso tippe ich mir die Finger wund, wenn der nicht rangeht? Er steht im Plan!“
    „Das weiß ich nicht. Was gibts?“ Julias Stimme klingt genervt.
    „Eine Meldung aus der Uniklinik. Ein Mann ohne Papiere ist mit schweren Gesichtsverletzungen eingeliefert worden. Der Arzt vermutet, dass es sich um Verletzungen durch einen Schlagring handelt.“
    „Gut. Ich übernehme das. Wo liegt er? Gib mir die Daten.“
    Julia notiert sich, was der Kollege ihr mitteilt.

    Auf Alexanders Schreibtisch liegt ein Blatt Papier:
    Montag Personalgespräch!
    Das ist ein wichtiger Termin. Alex wird das doch hoffentlich nicht vergessen haben? Das wäre ein fataler Fehler, wenn der Chef mit ihm über die weitere berufliche Entwicklung sprechen will und er das vergisst. Alex wird doch nicht krank sein, überlegt sie.
    Dann schwingt sie sich in ihre Jacke, schaltet ihren Computer aus und fährt ins Krankenhaus, um den neuen Fall zu bearbeiten.

    Das Röntgenbild zeigt massive Verletzungen der Wangenknochen, des Unterkiefers und ein gebrochenes Nasenbein. Dann schaut sie auf ein Foto, das der Arzt ihr auf dem Computer zeigt.
    „Sehen Sie, hier ist ein Foto seines Gesichtes, nachdem wir die Verschmutzungen gereinigt hatten. Ich denke, das sind die Spuren eines Schlagringes.“
    Julia sieht vier längliche Verletzungen in einer Reihe auf der Haut. Eindeutig ist das ein Schlagring!