Erster Fall

Eine Novembernacht kann furchtbar dunkel sein, denkt Kriminalhauptkommissar Alexander List, als er in Richtung Innenstadt fährt. Das Elbtal hat etwas von einem Amphitheater. Geschwungene Hänge säumen den Blick auf das Eigentliche, unten am Fluss. Dresden ist hinaufgewachsen an diesen Hängen. Will man die Stadt verlassen, so muss man bergauf. Andersherum schaut der Ankommende von oben hinein und wird so in die Stimmung der Vorfreude versetzt. Doch heute fühlt sich Alex, als ob er in den Trchter eines Ameisenlöwen geraten ist. Ein Insekt, das unsichtbar anderen auflauert, um sie zu verschlingen. Ganz unten, auf der untersten Talsohle wartet etwas, was er noch nicht sieht, wovon er aber weiß, dass es gleich seine ganze Aufmerksamkeit fordert. Wissend setzt er seinen Weg dennoch fort.
In den Abendstunden wird die Kuppel der Frauenkirche, die Hofkirche, die Semperoper - das ganze Panorama der Altstadt beleuchtet. Es ist ein Anblick, den man lange genießen möchte. Doch jetzt, zu dieser frühen Stunde, liegt alles in Dunkelheit. Alex fährt über die Augustusbrücke auf das Schloss zu. Er biegt rechts ab, vorbei am schlafenden „Italienischen Dörfchen“ – einem noblen Restaurant. Noch einmal biegt er nach rechts und fährt nun unter der Brücke durch, auf der er eben den Fluss überquert hat. Sein Weg führt ihn am Altstädter Elbufer entlang, vorbei an den Ausflugsdampfern. An der nächsten Kreuzung mit der ausgeschalteten Ampel sieht er schon, dass seine Fahrt gleich enden wird. Ein Kollege in Uniform sperrt die Uferstraße mit blinkenden Pylonen. Links der Fluss, rechts drei Häuserblocks aus den Fünfzigern. Zwischen Fußweg und Häuserwänden sind gepflegte Rasenflächen angelegt. Die Kollegen von der Kriminaltechnik stellen ein hohes Zelt und Scheinwerfer auf dem Rasen auf. Das Zelt überdeckt eine tote Frau. Sie ist der Grund, weshalb Kriminahauptkommissar Alexander List so früh unterwegs ist.
„Morgen“, brummt Alex. Die Kollegen nicken nur. Sie haben weiße Schutzanzüge angezogen und halten Alex Plastiküberzüge für seine Schuhe hin.
„Was gibt es?“
„Eine Tote. Tanja Hofmeister, steht in ihrem Ausweis. Neunundzwanzig Jahre alt.“ Helena Große, eine Mitarbeiterin des Kriminaltechnischen Institutes, streckt ihm den Personalausweis entgegen, den man in der Handtasche der Toten gefunden hat. Alex wirft einen Blick auf das Foto. Eine wunderschöne Frau. Lange schwarze Locken, hübsches Gesicht. Er fühlt einen Stich im Herzen, dass dieses junge Leben nun tot zu seinen Füßen liegt.
„Der Notarzt wartet noch“, sagt Helena.
Alex sieht den Krankenwagen stehen. Die Scheinwerfer haben Standlicht und alle Türen sind geschlossen. Alex greift in seine Jackentasche und zieht Dienstausweis und Personalmarke heraus, während er an die Tür der Beifahrerseite tritt. „Kriminalhauptkommissar List“, stellt er sich vor und hält seine Legitimation hoch. Der Mann neben dem Fahrer steigt aus. Auf seiner Jacke liest Alex:
Dr. Daniel Mischke. „Sie haben die Tote untersucht?“

„Ja. Sie war schon tot, als wir eintrafen.“ Er holt einen Zettel aus der Tasche. „Der Notruf kam um zwei Uhr zehn. Wir waren zwei Uhr einundzwanzig hier. Die Frau lag auf dem Bauch. Der Brustkorb war eingedrückt, der Kopf schwer verletzt. Auf dem Rücken ihrer Jacke konnte ich deutliche Reifenspuren sehen. Sie hatte Ohrhörer in den Ohren und die Musik war laut. Man konnte es hören, obwohl die Dinger noch in ihren Ohren steckten. Ich habe sie dann umgedreht. Sie hatte keinen Puls mehr und keine Atmung.“
„Waren noch Personen oder Fahrzeuge da? Haben Sie jemanden gesehen?“
„Ja. Ein Zeitungsausträger. Er hat die Tote gefunden und er hat uns angerufen.“
Alex schaut sich um. „Wo ist der?“
Dr. Mischke hebt die Schultern und die Augenbrauen. Er schaut sich um und zeigt dann auf einen jungen Mann, der sich in einem Hauseingang untergestellt hat. „Da.“ Dann hält Dr. Mischke Alex einen Zettel entgegen. „Der Totenschein“, sagt er und wischt einen Regentropfen vom Papier. „Nicht natürlicher Tod“, liest Alex.
„Wir müssen dann wieder.“

„Ja, natürlich. Danke, dass Sie gewartet haben. Die Techniker müssen noch ihr Sohlenprofil fotografieren, Vergleichsmaterial.“ Alex dreht sich um und ruft: „Helena, kommst du mal!“

Alex weiß nicht, wie oft er an diesem Haus schon vorbei gefahren ist. Unzählige Male. Drei Häuserblocks und jeder hat vier Hauseingänge. Vor dem mittleren Häuserblock ist es geschehen. Die Haustüren sind von kleinen Vordächern geschützt und in einem wartet schon seit einiger Zeit ein junger Mann.
Ein Fenster neben der Haustür öffnet sich. Eine Frau im Bademantel schaut auf das Geschehen.
„Was ist denn los?“, fragt sie mit ungläubigem Staunen. „Drehen Sie hier einen Film?“

Das wäre schön, denkt Alex.
„Das erkläre ich Ihnen gleich. Ich werde sie noch befragen müssen“, sagt er, als er auf den Zeitungsboten zugeht.
Die Frau scheint zu ahnen, dass es keine Dreharbeiten sind. „Um Gottes willen…“
Alex hält dem Zeugen seinen Ausweis hin und stellt sich vor. „Sie haben die Tote gefunden?“
Er nickt.
„Wie heißen Sie? Kann ich Ihren Ausweis sehen?“

Alex zieht sein Telefon und fotografiert den Ausweis. Das erspart ihm die Mühe, eine Notiz zu machen. Dann sagt er: „Erzählen Sie mal, wie haben Sie die Frau gefunden?“
„Ich habe mein Auto, wie immer, auf der Straße in der Mitte des ersten Blockes abgestellt, die Warnblinkanlage eingeschaltet und dann bin ich zu den Briefkästen neben den Haustüren gegangen, um meine Zeitungen loszuwerden. Als ich an der letzten Haustür des ersten Blockes war, sah ich etwas auf demRasen liegen. Ich dachte, da hat jemand etwas verloren, eine Decke vielleicht. Es war dunkel und nass. Ich habe mein Auto dann vor den nächstenHäuserblock gefahren und bin mit den Zeitungen losgegangen. Dabei musste ich an dem da vorbei“, er macht eine Handbewegung zu dem Zeltling, der jetzt die Tote überdacht, „und ich sah, dass es keine Decke war. Ich habe nachgesehen, ob sie noch lebt. Sie hat noch geröchelt. Also habe ich den Notruf gewählt. Ich wollte eigentlich nicht hier bleiben, allein mit dieser Frau. Aber der Mann in der Notrufzentrale hat gesagt, dass ich warten muss.“
„Haben Sie jemanden auf der Straße gesehen?“
„Nein, da war niemand.“
„Fahrzeuge?“
„Nichts. Ich war ganz allein.“
„Denken Sie genau nach.“
Der Mann schüttelt den Kopf.
„Es kann sein, dass wir noch Fragen haben, bitte bleiben Sie erreichbar. Wir müssen auch Ihr Sohlenprofil fotografieren.“ Alex ruft noch einmal nach der Technikerin. Dann verabschiedet er sich. Die Frau am Fenster hält sich die Hand vor den Mund und ihre Augen sind geweitet. Auch sie hat nichts gesehen, ist erst durch das helle Licht vor ihrem Fenster erwacht. Alex fragt: „Die Frau heißt Tanja Hofmeister. Sagt Ihnen der Name etwas?“
„Ja, natürlich. Sie wohnt hier im Haus und kommt jede Nacht um diese Zeit nach Hause.“
„Wo kommt sie her?“
„Von ihrer Arbeit, denke ich.“
„… und wo arbeitet sie?“
„Woher soll ich das wissen? Sie kam meistens um diese Zeit und sie kam immer allein. Sie hat gegrüßt und dann ist sie weitergegangen. Ich wüsste nicht, dass sie jemals stehengeblieben wäre und sich mit jemandem unterhalten hätte.“
„Gut. Aber vielleicht fällt Ihnen noch irgendetwas ein. Jede Kleinigkeit kann ein Hinweis sein.“
Die Frau schaut ins Leere. „Ja. Doch. Sie hat einen Parkplatz im Hof. Dort stellt sie ihr Auto ab. Normalerweise geht sie immer hinten ins Haus. Das höre ich, weil die Tür etwas klemmt.“
„Danke“, sagt Alex. Ein Auto im Hof, denkt er. Er wendet sich den Kollegen unter dem Zelt zu. Alex lässt sich den Autoschlüssel aus der Handtasche der Toten geben und ruft einen Uniformierten.
„Suchen Sie mal das dazugehörige Auto. Es könnte hinter dem Haus stehen.“
Das Licht unter dem Zelt ist so hell, dass Alex die Augen zusammenkneift. Die Frau liegt auf dem Rücken. Ihr Gesicht ist schmutzig, blutig und entstellt. Durch die Kleidung hindurch sieht man, dass ihr gesamter Körper zerquetscht ist. Sie liegt in ihrer eigenen Blutlache.

 

Pit Willhelms ist inzwischen eingetroffen. Er ist der Chef der Techniker und hat wohl jedes Studium abgeschlossen oder zumindest angefangen, was an europäischen Universitäten angeboten wird, so kommt es Alexander jedenfalls vor. Es gibt kein Fachgebiet, von dem er nichts versteht, außer Lyrik vielleicht. Pit ist um die vierzig, und in Alexanders Augen ein Verrückter. Im letzten Sommer hat Alex seinen Kollegen einmal zu Hause abgeholt. Pit hat ihm sein altes Haus und den riesigen Garten, aber vor allem seine Schätze in den Garagen gezeigt. Dann hat er Alex seine Projekte erklärt und die Pläne, die er hat. Alex hat nur geschmunzelt und nichts gesagt. Wenn das alles einmal entstehen soll, dann muss Pit dreihundert Jahre alt werden. Fertig sind bis jetzt nur die zehn Garagen, in denen er alte Autos sammelt. Das Wohnhaus ist ein Provisorium. Das Dach ist gemacht und es gibt auch Wasser und Strom, aber alles andere sind die Projekte der Zukunft. In der Küche steht ein transportabler Heizkörper mit dem er verhindert, dass er erfriert. Er schläft auf einem Sofa unter dem Küchenfenster. Die Küche ist der einzige Raum, den er bewohnt. Dort kocht er, sieht fern, wäscht seine Wäsche und dort schläft er auch. Im Obergeschoss wird er einmal ein Schlafzimmer haben und ein Luxusbad daneben. Auch das ist Zukunft. Im künftigen Wohnzimmer standen und lagen die Sommerreifen von drei verschiedenen Autos, der elektrische Antrieb für ein Garagentor, die Kreissäge und zehn Säcke Zement. Wenn Pit von seinem Garten spricht, dann könnte man an Rasen, Blumen und Obstbäume denken. Pits Garten ist eher ein Lager für Steine und Kies, Schubkarren und Betonmischer. Jetzt steht dieser Mann im Schutzanzug vor der toten Frau.

 

Alex beobachtet jeden seiner Handgriffe. Pit kommentiert für Alex, was er tut. Er fotografiert, legt zur Nummerierung der Beweise Zahlentafeln und Pfleile auf und neben den Leichnam. Dann gilt seine Aufmerksamkeit den Reifenspuren auf dem Rand des Rasens. Er erklärt mit Gesten und dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe, dass diese junge Frau mit einem Auto absichtlich überfahren wurde. Jemand hat sie von hinten angefahren, hat sie vorwärtsfahrend überrollt, den Rückwärtsgang eingelegt und ist noch einmal über sie gefahren.
Pit erhebt sich und sagt zu Alex: „Unfall mit Fahrerflucht könnt ihr ausschließen. Hier ist jemand ganz gezielt vorgegangen.“
Alex schaut starr auf Pit, dann fragt er nach: „Kein Unfall?“
„Nein, wirklich nicht.“
„Das bedeutet: Arbeit für uns! Ich rufe Volkmann an.“ Alex holt sein Telefon heraus und informiert den verschlafenen Staatsanwalt von den Ereignissen der Nacht.
Helena steht neben Pit. Sie hat eine Handtasche und ein Telefon mit angeschlossenen Ohrhörern in der Hand. Noch immer schallt es blechern aus den Ohrstöpseln.
„Hier“, sagt sie und hält beides in Alexanders Richtung. Er nimmt die Sachen entgegen. Er hält die Handtasche unter eine Lampe und schaut nach, was sie bei sich hatte. Ein Portemonnaie, eine kleine Dose Hautcreme, Kugelschreiber, Taschentücher, ein Täschchen mit Lipgloss, Nagelfeile, Pinzette. In einer Seitentasche stecken eine Packung Kopfschmerztabletten und zwei Kondome. Nichts, was ihm im Augenblick eine besondere Erkenntnis bringt. Ganz normaler Kram. Er reicht die Tasche an Helena zurück. „Nehmt sie in den Bericht mit auf.“ Er drückt auf das Handy. Die Musik verstummt. Alex geht den Speicher durch: Musikdateien, Adressdateien, Fotos – hauptsächlich von Pferden. Alex reicht auch das Handy an Helena zurück: „Das auch.“

 

Dann ist Volkmann da. Trotz der frühen Stunde hat er einen Anzug an, die Krawatte gebunden und er trägt einen langen, dunkelbraunen Schal über dem Revers seines wadenlangen Mantels. Alex hat immer Magenschmerzen bei seinem Anblick. Niemals war Volkmann unfair zu ihm. Doch er gab ihm stets das Gefühl, dass er selbst der Ermittler sei und Alex sein Handlanger. Volkmann zog die Schlussfolgerungen und er entschied auch, welche Spur welche Priorität hatte, allemal bei großen, wichtigen Fällen. Manchmal, wenn Alex einem Verdächtigen im Vernehmungsraum gegenüber saß, dann spürte er ganz deutlich, dass Volkmann irrte. Er hätte dann gern eine andere Strategie verfolgt,doch der Staatsanwalt bestand darauf, dass erst jeder letzte Zweifel an seiner Idee ausgeräumt werden musste, ehe man einem anderen Gedanken nachging. Das hatte in der Vergangenheit schon mehrmals dazu geführt, dass sich Ermittlungen verzögerten. Ganz klar sah Alex in diesem Mann einen Hemmschuh, ein Hindernis auf der Zielgeraden zu seinem eigenen Erfolg.